Westküste 100

Mit Wasserstoff unterwegs in Richtung
Zukunft.

Zwei Wasserstoff-Experten von OGE machen sich auf den Weg zu einem unserer neuesten Projekte: dem Reallabor Westküste 100 in Schleswig-Holstein. Die beiden Reisenden fahren mit einem Hyundai Nexo von Essen nach Schleswig-Holstein. Wir meinen: Besser als mit einem Wasserstoff-Fahrzeug kann man nicht zu einem Wasserstoff-Zukunfts­projekt reisen. Wir berichten über die Reise — und natürlich ausführlich über das Projekt.

Per Brenn­stoff­zellen­auto zum Reallabor

Am 4. Dezember 2019 wartet er auf dem OGE-Parkplatz in Essen auf seine Passagiere: ein Hyundai Nexo. Angetrieben von einer Brennstoff­zelle, mit Strom aus Wasserstoff. Mahsa Siebold und Andreas Lehmann nähern sich dem Fahrzeug voller Neugier und Vorfreude. Die beiden sind bei OGE zuständig für Wasserstoff­projekte, die vom Gasnetz­betreiber gefördert und begleitet werden. Der ADAC lobt das „alltags­tauglichste Brennstoff­zellen­fahrzeug auf dem Markt“. Mit nur 1,2 Kilogramm Wasserstoff soll der Nexo 540 Kilometer weit kommen. Von Essen bis nach Hemmingstedt in Schleswig-Holstein sind es rund 450 Kilometer. Das müsste das Fahrzeug eigentlich schaffen.

Kurz vor der Abfahrt kommt Projektleiter Martin Frings zum Fahrzeug. Mahsa Siebold, die einmal die Projektleitung für die technische Umsetzung von Westküste 100 übernehmen wird und ihr Kollege aus der Projekt­kommunikation Andreas Lehmann wollen noch nicht einsteigen. Gemeinsam schauen die Fachleute unter die Motorhaube. Wo ist die Brennstoffzelle? Wo ist der Tank?

Mahsa Siebold:

Im Innenraum des Wasserstoff­autos fällt gleich das große Display auf, das quasi die Fahrzeug­technik grafisch abbildet. Den Fahrer kann das verwirren, aber interessant ist es schon zu sehen, wieviel Wasserstoff gerade umgewandelt wird und wie sich die Reichweite reduziert, wenn man mal richtig aufs Gaspedal drückt.

Andreas Lehmann:

Das erste Tanken erwarten wir mit Spannung. Die H2mobility-App zeigt uns die Wasserstoff­tankstellen auf der Strecke an. Danach haben wir auch unsere Route geplant. Die Reichweite ist eigentlich ausreichend, aber wir wollen natürlich auch mal das Tanken kennenlernen.

An der Tankstelle müssen wir erst die Tankkarte in die Zapfsäule stecken und die PIN eingeben. Danach verbinden wir den Tankstutzen am Fahrzeugtank. Mit 700 bar saugt der sich an. Ein extremer Druck, damit der Wasserstoff auch in den Tank gedrückt werden kann. Startknopf drücken. Fürs Volltanken warten wir etwa so lange wie auch bei Benzin und Diesel. Beleg entnehmen — und weiterfahren!

Heute
Zukunft
Aktiv
Im Aufbau

Diese Karte zeigt die bestehenden und geplanten Wasserstoff­tank­stellen in Deutschland im Jahr 2019. Immer mehr solcher Tank­stellen werden gebaut. Den neuesten Stand sehen Sie live hier: https://h2.live/

Mahsa Siebold:

Die Idee zu Westküste 100 ist im Entwick­lungs­büro Region Heide in Zusammen­arbeit mit der Raffinerie Heide entstanden. Wir von OGE hatten bereits vorher gute Kontakte zu dem Entwicklungs­büro. Die sind von Anfang an sehr offen und aktiv mit dem Thema Wasserstoff umgegangen. So sind wir als Fernleitungs­netz­betreiber quasi von Anfang an mit im Boot.

Andreas Lehmann:

So reisen wir sehr entspannt zur Raffinerie Heide. Unser Fahrzeug ist dort die Attraktion! Der Geschäftsführer Jürgen Wollschläger will mit ein paar Mitarbeitern den Wagen sogar aufbocken lassen, um drunter zu blicken.

Jürgen Wollschläger:

Künftig nachhaltiger fliegen, bauen und heizen – das ist unsere gemeinsame Vision. Schaue ich auf uns in der Raffinerie Heide, so ist es unser klares Ziel, mit einer „grünen Raffinerie“ ein aktiver Teil der Energiewende zu werden.

Jürgen Wollschläger, Geschäftsführer der Raffinerie Heide, Andreas Lehmann, Mahsa Siebold und Stefan Nitzinger, ebenfalls von der Raffinerie (von links)

Westküste 100:
Fossile Rohstoffe 0

Emissionsfreie Fortbewegung, das kann nicht nur auf der Straße gelingen, sondern auch in der Luft. Segelflieger wissen, wie das geht. Und was für ein Genuss es ist, in aller Stille über dem platten Land des westlichen Schleswig-Holsteins zu kreisen. Ihr treuer Freund ist der Wind, der sie in 400 Metern Höhe hält und am Boden allgegenwärtig das Leben begleitet. Unübersehbar für Segel­flieger und die Menschen unten: die zahlreichen Wind­kraft­anlagen. Sie würden viel mehr Strom erzeugen. Wenn sie dürften, wie sie könnten.

Doch leider kann die Strommenge mangels ausreichender Strom­netz- oder Speicher­kapazitäten oft nicht voll­ständig abgenommen werden. So werden die Windkraft­anlagen immer wieder abgeschaltet.

„Hier an der Westküste ist das jeden zweiten Tag der Fall, da entsteht ein riesiger volks­wirtschaft­licher Schaden: 2018 summierte er sich auf eine halbe Milliarde Euro deutschland­weit. Das ist Geld, dass die Strom­kunden überwiesen haben, ohne die bezahlte Leistung der Wind­müller nutzen zu können.“

Jürgen Wollschläger, Geschäftsführer der Raffinerie Heide in einem Interview 2019 mit dem Online-Portal bizz-energy.com

Die Lösung dafür liegt bereits unter der Erde: Die Gas­infra­struktur von OGE, bereit dazu, syntheti­siertes Gas aus Öko­strom aufzunehmen, zu speichern und weiter­zuleiten. Eine Gas­infra­struktur übrigens, mit der man auf den Kilometer bezogen mehr Energie transpor­tieren kann, als über das Stromnetz.

Die Raffinerie Heide ist die nördlichste Petro­produktion Deutschlands. Hier in Hemmingstedt werden jährlich mehr als 4 Millionen Tonnen Rohöl verarbeitet. Zu Benzin, Diesel, Kerosin, Heizöl und vielen anderen petrochemischen Produkten.

Von der Raffinerie zur Kleinstadt Heide ist es für einen Piloten nur eine kleine Schleife. Gut zu erkennen ist die freie Fläche im Zentrum. Es ist der größte unbebaute Marktplatz Deutschlands, rund sechs Fußball­felder passen drauf. Bereits vor mehr als 500 Jahren wurde hier gehandelt, große und kleine Politik gemacht. Die riesige Fläche war der Knoten­punkt in der Region, vernetzte Produzenten, Händler und Käufer miteinander.

Für Handel und Produktion wurden damals schon fossile Rohstoffe eingesetzt. Aber noch längst nicht in dem Umfang wie heute. Es wird angesichts des Klimawandels höchste Zeit für die Dekarbonisierung ganzer Industrie­zweige. Und mit besonders gutem Beispiel will die Region um die Stadt Heide vorangehen.

Noch ist davon aus dem Cockpit eines Segel­fliegers nichts zu sehen. Doch in der nächsten Zeit wird am Boden in der Nähe der Raffinerie Heide ein 30 Megawatt Elektrolyseur installiert werden. Als zentrales Element des Reallabors „Westküste 100“.

And the
winner is:
das Klima

Das Bundes­wirtschafts­ministerium hat den Förder­wettbewerb „Reallabore der Energiewende“ ausgerichtet. 20 ausgewählte Projekte erhalten insgesamt 100 Millionen Euro jährlich aus dem Bundes­haushalt; fünf Jahre lang. In den Real­laboren erforschen die Projekt­teilnehmer innovative Energie­technologien unter realen Bedingungen und skalieren diese im industriellen Maßstab. Im Zentrum: Wasserstoff als Kernelement der Sektoren­kopplung.

Einer der Gewinner ist „Westküste 100“. Das Konsortium hinter dem Projekt: EDF Deutschland, Holcim Deutschland, OGE, Ørsted, thyssenkrupp Industrial Solutions, die Stadtwerke Heide und die Raffinerie. Begleitet wird das Vorhaben von der Entwicklungs­agentur Region Heide und der Fachhoch­schule Westküste. Das Besondere und Innovative an diesem Reallabor-Projekt ist die Verzahnung unterschiedlicher Stoff­kreisläufe innerhalb einer bereits bestehenden regionalen Infrastruktur: Windkraft­anlagen, Raffinerie, Zement­produktion, Gas­pipelines, Stadtwerke.

Zunächst wird eine Elektrolyse­anlage mit einer Leistung von 30 Megawatt Erkenntnisse liefern zu Betrieb, Wartung, Steuerung und Netz­dienlichkeit solcher Anlagen. Das ist wichtig, um Elektrolyseure später in deutlich größerem Maßstab zu bauen. Gedacht wird an eine Größen­ordnung von 700 Megawatt, für die der Strom durch einen Offshore-Windpark erzeugt wird.

Die so erzeugte, regenerative Energie wird im Projekt dafür genutzt, um an der Raffinerie Heide durch Elektrolyse grünen Wasserstoff zu erzeugen. Dazu soll ein verzweigtes Wasserstoff­netz entstehen: Es wird dann die Raffinerie, die Stadtwerke, ein Kavernen­system als Wasserstoff­speicher und das bestehende Erdgas­netz miteinander verbinden.

Wichtiger Bestandteil des zukünftigen Wasserstoff­netzes ist die Transport­leitung: OGE ist mit seinem Transport­netz bereits in der Nähe der Raffinerie. Für Westküste 100 wird OGE eine rund sechs Kilometer lange Pipeline bauen – von der Raffinerie bis zu den Stadtwerken Heide. Als Infrastruktur­anbieter trägt der Fernleitungs­netz­betreiber entscheidend bei zu einem Know-how-Transfer im Reallabor.

Westküste 100 soll exemplarisch zeigen, wie konsequente Sektorenkopplung funktioniert. Dazu gehört auch, den Sauerstoff aus der Elektrolyse in den Verbrennungsprozess des lokalen Zementwerkes einzuspeisen. Damit könnten dessen Stickoxid-Emissionen (NOX) deutlich reduziert werden. Das im Zementwerk entstehende Kohlendioxid (CO2) soll wiederum zusammen mit dem grünen Wasserstoff in der Raffinerie zur Herstellung von synthetischen Kohlenwasserstoffen eingesetzt werden.

Was man damit herstellen kann? Flugkraftstoff und chemische Grundstoffe wie Methanol! Und die grüne Kettenreaktion setzt sich fort: Die Prozesswärme aus der Raffinerie soll in einem bestehenden und weiter ausgebauten Wärmenetz ausgekoppelt und in einem nahegelegenen Gewerbepark genutzt werden.

Der Förderantrag liegt derzeit beim Bundeswirtschaftsministerium zur Freigabe. Im Sommer 2020 erwarten die Projektteilnehmer den Förderbescheid, dann beginnt die Umsetzung.