OGE Politikbrief
Auf dem Weg zur europäischen Klimaneutralität:
Die Dekarbonisierung des Gassektors.
Europa soll bis 2050 klimaneutral werden. Das ist ein genauso ambitioniertes wie richtiges Ziel. Mit dem EU Green Deal soll dieses Ziel erreicht werden, und auf dem Weg dorthin ist das Fit-for-55-Paket ein entscheidender Baustein. Bis zum Jahr 2030 sollen die Treibhausgasemissionen in Europa um 55 % gegenüber 1990 gesenkt werden. Im ersten Teil des Fit-for-55-Pakets hatte die Europäische Kommission im Sommer 2021 unter anderem Programme zu Erneuerbaren Energien, dem Emissionshandel und der Energieeffizienz vorgestellt.
Die europäische Energieversorgung basiert jedoch zum größten Teil auf Molekülen, darunter auch einem großen Anteil gasförmiger Energieträger. Neben dem massiven Ausbau von Anlagen für erneuerbaren Strom und Verbesserungen bei der Energieeffizienz wird es für das Erreichen unserer Klimaziele also vor allem auf die Dekarbonisierung der molekülbasierten Energieträger ankommen. Der zügige Hochlauf von Wasserstoff in Europa ist hierbei der Schlüssel. Im Dezember 2021 wurde nun der zweite Teil des Maßnahmenpakets vorgestellt. Darin enthalten ist folgerichtig auch das „Hydrogen and Gas Markets Decarbonisation Package“. Es umschließt unter anderem Instrumente zum Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur. Diese ist für die Wasserstoffwirtschaft in Europa von zentraler Bedeutung.
Gasdefinition
Eine elementare Änderung des Gasmarktpakets ist die ausgeweitete Definition von „Gasen“ von Erdgas auf Wasserstoff UND Erdgas. Damit einher geht die Integration der Wasserstoffregulierung in den bestehenden Gasrahmen. Daneben wird auch eine Definition für kohlenstoffarme Gase eingeführt, bei denen es sich um Gase aus nicht erneuerbaren Quellen handelt, die eine THG-Reduzierungsschwelle von mindestens 70 % erreichen. Die Ausweitung der Gasdefinition auf Wasserstoff und kohlenstoffarme Gase ist ein zwingend notwendiger erster Schritt, um gasförmige Energieträger in der EU Schritt für Schritt zu dekarbonisieren.
Entflechtung
Auch im Bereich der Entflechtungsregeln werden im Gasmarktpaket Neuerungen vorgeschlagen. Die wohl wichtigsten Änderungen sind die Entflechtungsvorgaben für die künftigen Betreiber von Wasserstoffnetzen. Im Bereich der vertikalen Entflechtung wird dabei grundsätzlich eine eigentumsrechtliche Entflechtung vorgegeben. Diese Regelung würde für alle potenziellen Wasserstoffnetzbetreiber ab spätestens 2030 gelten. Da viele europäische Gasnetzbetreiber diese Vorgaben aktuell nicht erfüllen, könnten sich weitreichende Veränderungen in der Struktur und Organisation der Unternehmen und der Finanzierungsfähigkeit der Wasserstoffinfrastruktur ergeben. Denn z. B. Finanzinvestoren wären als mögliche Eigentümer von Wasserstoffnetzbetreibern de facto ausgeschlossen, da diese in der Regel an verschiedensten energiewirtschaftlichen Unternehmen beteiligt sind, obwohl sie dabei keine integrierten energiewirtschaftlichen Interessen vertreten.
Bei der horizontalen Entflechtung müssen Gas- und Wasserstoffnetzbetreiber innerhalb einer Unternehmensgruppe gesellschaftsrechtlich, buchhalterisch und informatorisch untereinander entflochten sein. Für viele aktuelle Gasnetzbetreiber bedeutete das primär eigene Rechtsformen für die Bereiche Erdgas und Wasserstoff, getrennte Konten und keinen Austausch von Informationen zwischen den beiden Bereichen. Dies steht im Widerspruch zu der für die Energiewende zwingend erforderlichen gemeinsamen Planung von Strom-, Gas- inklusive Wasserstoff- und Wärmenetzen.
Beide Ansätze (vertikale und horizontale Entflechtungsvorgaben) würden nicht nur zu Effizienzverlusten und höheren Netzkosten führen, sondern vor allem den wichtigen schnellen Hochlauf von Wasserstoff mindestens verzögern. Es ist völlig unklar, warum die Europäische Kommission solch strenge Entflechtungsvorschriften vorsieht, wenn sowohl die Kommission als auch die nationalen Regulierungsbehörden in veröffentlichten Berichten (z. B. im „Report on the ITO model“ der EU-Kommission von 2014) bestätigen, dass das aktuelle Entflechtungsmodell in der Praxis gut funktioniert. Den Netzbetreibern bei der Entflechtung nicht die gleichen Möglichkeiten zu geben wie beim Erdgas, verletzt daher EU-rechtliche Prinzipien der Proportionalität und Subsidiarität. Darüber hinaus ist klar, dass sich das europäische Wasserstoffnetz am günstigsten aus dem bestehenden Gasnetz heraus entwickeln lässt. Es sollten daher keine zusätzlichen Entflechtungsregeln gegenüber der heutigen Praxis aufgestellt werden.
Netzplanung
In Bezug auf die Netzplanung ist die Veröffentlichung eines sogenannten Hydrogen Network Development Report auf nationaler Ebene vorgesehen, der einen eigenständigen, also vom Netzentwicklungsplan (NEP) unabhängigen Bericht darstellt. Für den NEP ändert sich vor allem, dass neben Neu- und Umbauprojekten künftig auch mögliche und geplante Dekommissionierungen geprüft und veröffentlicht werden müssen.
Auf europäischer Ebene soll ein Wasserstoffverband gegründet werden, European Network of Network Operators for Hydrogen (ENNOH), der unter anderem für den Wasserstoff-TYNDP verantwortlich ist. Obwohl die Definition von „Gasen“ auf Erdgas und Wasserstoff ausgeweitet wurde, hat die EU-Kommission hier die Aufgaben des Erdgasverbands, European Network of Transmission System Operators for Gas (ENTSOG), nicht auf Wasserstoff ausgeweitet, sondern einen separaten Prozess bestimmt. In dem bereits sehr straffen Zeitplan auf europäischer Ebene bei der gemeinsamen Szenarioplanung für Strom und Gas wird die Praxis durch die Einbindung eines weiteren Verbands damit zusätzlich erschwert.
Finanzierung
Ein zentraler Punkt beim Aufbau des Wasserstoffnetzes in Europa ist die Finanzierung. Leider bleiben die Vorgaben bzw. Möglichkeiten für eine gemeinsame Finanzierung von Wasserstoff- und Methaninfrastrukturen hinter den Erwartungen zurück. Aus der Verpflichtung, getrennte Vermögensbasen (RAB) für Erdgas, Elektrizität und Wasserstoff zu bilden, resultiert ein entscheidender Nachteil, der einem schnellen Markthochlauf von Wasserstoff und damit der Erreichung der Klimaziele entgegensteht: Die wenigen Wasserstoffkunden müssen am Anfang die hohen Kosten (bedingt durch einen noch sehr kleinen Markt bei gleichzeitig immensen Investitionen) allein tragen. Umgekehrt gilt das auch für die „letzten“ CH4-Kunden, die erst spät auf einen anderen Energieträger umgestellt werden. Zwar können Mitgliedstaaten finanzielle Transferzahlungen zwischen den RABs zulassen, jedoch geht aus den Gesetzgebungsvorschlägen nicht hervor, wie genau die Praxis dazu aussehen könnte. Ob damit eine Form der gemeinsamen Finanzierung erlaubt wird, ist unklar. In Verbindung mit der von der EU-Kommission vorgeschlagenen weitgehenden Befreiung von Netzentgelten beim Transport von erneuerbaren und dekarbonisierten Gasen ist als Konsequenz ein hohes Ausspeiseentgelt im Wasserstoffnetz zu erwarten.
Darüber hinaus will die EU-Kommission den europäischen Fernleitungsnetzbetreibern vorschreiben, dass diese an den Grenzübergangspunkten bis zu 5 % Wasserstoffbeimischung im Erdgasfluss akzeptieren müssen. Auf die wesentliche Frage, ob eine Beimischung, die zudem fluktuieren kann, für alle Kundengruppen akzeptabel ist und wer die Kosten von Deblending trägt, wenn Kunden eine höhere Reinheit des Erdgases benötigen, wird nicht eingegangen. Aktuell sieht der Prozess in solchen Fällen lediglich ein Schlichtungsverfahren zwischen nationaler Regulierungsbehörde, Netzbetreiber und/oder Kunde vor. Genaueres soll dann im Netzkodex Interoperabilität definiert werden.
Fazit und Ausblick
Für europäische Gasnetzbetreiber führen die Gesetzgebungsvorschläge sowohl zu Chancen als auch zu Risiken. Für Wasserstoff sind vor allem die Definition innerhalb des Rahmens der gasförmigen Energieträger und die Integration der Regulierung in den bestehenden Gasrahmen positiv zu bewerten. Kritisch zu sehen sind dagegen unter anderem die bisher nur unpräzise festgelegten Finanzierungsmöglichkeiten zwischen Erdgas und Wasserstoff, die Entflechtungsvorgaben sowie die größtenteils voneinander losgelöste Netzplanung. Hier muss schnell und umfassend nachgebessert werden.
Die Gesetzgebungsvorschläge der EU-Kommission müssen in der weiteren Folge den ordentlichen Gesetzgebungsprozess durchlaufen, in dem sich nun EU-Parlament und EU-Rat damit befassen. Die Abstimmung zwischen den Institutionen, der sogenannte Trilog, könnte Erfahrungen zufolge ca. ein Jahr in Anspruch nehmen. Es ist davon auszugehen, dass es im Rahmen des Trilogs noch Änderungen an den vorgeschlagenen Maßnahmen geben wird. Mit einer Umsetzung der neuen Regelungen ist nicht vor 2024/2025 zu rechnen. Angesichts der Notwendigkeit der Erreichung der Klimaziele muss deutlich schneller gehandelt werden.